Das weiße Fräulein von der Dersaburg


In jenen dunklen Tagen, als der mörderische Bruderzwist zwischen den Franken und den Sahsnotas (= Sachsen), der seit vielen Jahrzehnten das Land verheerte, seinem blutigen Höhe- punkt entgegen strebte, begab es sich, dass der Sachsenherzog Widukind bei einem seiner Raubzügen sich vor seinen Verfolgern auf die aus der Römerzeit noch gut erhaltene Dersaburg in Sicherheit bringen wollte.

Auf dem Weg dorthin zog er mordend und brandschatzend auch durch die Holthorper Niederung. Dabei trat ihm plötzlich ein junges Mädchen aus eben dieser Ansiedlung mutig entgegen und forderte ihn ohne ein Zeichen von Angst auf, von seinem unchristlichen Tun abzulassen. Anderenfalls werde ihn das Strafgericht des Allerhöchsten gar fürchterlich ereilen. Der heidnische Herzog lachte jedoch nur über diese Warnung und nahm das junge Mädchen, das sich als Anhängerin des einzigen und wahren Gottes zu erkennen gab, gefangen und verschleppte es auf seine Burg.

Auf der Dersaburg angekommen, wiederholte das Mädchen auf das eindringlichste seine Prophezeiung. Aber abermals zeigte sich der Herrscher verstockt und verschloss sein Herz vor der unverbrüchlichen Wahrheit. Der unerschütterliche Glaube und der mannhafte Mut des Mädchens jedoch zogen ihn in seinen Bann und er befahl seinen Spießgesellen alsbald das concubinat (= die Hochzeit) zwischen ihm und dem tugendhaften Mädchen vorzubereiten. Dieses grausame Schicksal vor Augen entwand sich das Mädchen in einer letzten Kraft- anstrengung seinen Häschern, trat auf die Mauern der Dersaburg hinauf und stürzte sich in die todbringende Sümpfe zu Füßen der Burg, wo es wie ein Stein und ohne Rettung in den schwarzbraunen Wassern versank. Aber noch im Fallen ermahnte sie ein letztes Mal mit glockenheller Stimme die Räuber: „Kehret um und bereut eure Sünden!“

Die Kunde von dem mutigen Mädchen verbreite sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land und gelangte schließlich vor die Ohren des Frankenherrschers Karl (dem Großen). Als er die Kunde von diesem unbarmherzigen Geschick und von den erneuten beispiellosen Untaten seines Widersachers vernahm, schwor er einen heiligen Eid, nicht länger ruhen zu wollen, bis dass Widukind entweder von seiner Raserei abgelassen hat oder vor seinem himmlischen Richter getreten ist. Daher rüstete der edle Frankenfürst zu einem grossen Kriegszug und verfolgte mit grosser Beharrlichkeit und Schlauheit Widukind und dessen barbarischen Sachsenkrieger.

Am Ort des Geschehens angekommen sprach Karl die schicksalschweren Worte „et hic venit dersa“ und ließ die Burg bis auf die Grundmauern niederbrennen und schleifen. Zu Ehren des unerschrockenen Mädchen wurde hingegen auf den Ruinen der Dersaburg ein Kreuz aus grob behauenen Eichensuhlen errichtet. Dieses Kreuz gab für viele Jahrhunderte beredtes Zeugnis von der Glaubensfestigkeit des Holthorper Mädchens.

Der Sachsenfürst ergab sich nach erbittertem aber letztendlich aussichtslosem Kampf der fränkischen übermacht, schwor dem heidnischen Glauben ab und wirkte fortan als geläuterter Missionar segens- und friedenbringend für den christlichen Glauben.

Noch viele Jahrhunderte nach den realen Ereignissen wurde im Süden des Oldenburger Münsterlandes erzählt, dass zu der blauen Stunde, wenn der Abendnebel aus dem Quellgebiet um die Dersaburg aufsteigt, für Menschen reinen Herzens die schemenhafte Gestalt des mutigen Mädchens, zu Füßen des Eichenkreuzes sitzend, zu sehen ist.

(In den Wirren des dreißigjährigen Krieges verliert sich jeglicher Hinweis auf die Sage. Zufällig wiedergefunden wurde der Originaltext in der Mitte des 18. Jahrhunderts von einem Bauernjunge auf der Suche nach einem verirrten Kalb in den Wallgräben der Dersaburg. Der Junge berichtete seinen Nachbarn zwar von der Entdeckung der Gräben, den Tonkrug mit der darin enthaltenen uralten Pergamentrolle verschwieg er jedoch. So aufmerksam auf die Wall- anlagen geworden unternahm schließlich im Jahre 1768 der münstersche Hauptmann Flensburg erste Ausgrabungen auf der bis dato der Vergessenheit anheim gefallenen Dersa- burg. Die Schriftrolle hingegen wurde als geheimes Erbstück in der Familie des Bauernjungen wohl verwahrt und von Generation zu Generation weiter vererbt.

Kurz vor seinem Tod entschloss sich der letzte und hochbetagte Spross dieses alten Bauern- geschlechtes das Pergament der öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als er es jedoch nach vielen Jahrzehnten zum ersten Mal wieder aus der Umhüllung hervor holte, zerfiel es zu Staub. Um das traurige Schicksal, aber auch das leuchtende Vorbild des weißen Fräuleins von der Dersaburg nicht wieder und dann vielleicht endgültig aus der Erinnerung der Menschen zu tilgen, diktierte er die Sage wie oben zu lesen.)


Datt witte Frollein van Dei Dersaborg


Domaols, in dei düstern Daoge, at dei gewalltige Striet tüsken dei Franken un dei Sassen, dei all siet väle Jaohr datt Land verneilde, sein Höhepunkt entgägengüng, do passeierde datt:

Dei Sassenherzoch Widukund möss sick bi ein`n van siene Rofftöge vör siene Verfolger verstoppen. Hei rettede sick upp dei Dersaborg. Düsse Borg stammde all ut dei Römertied un was noch heil gaut instann`n.

Upp denn Weg dorhen trück hei uck dör dei Hollrupper Deipde. ünnerwägens möök hei Lüe doot off stickde Hüser in Brand.

Doch einmaol treet üm ein junget Wicht ut düsse Gägend vuller Maut intaumeute. Sei födderde üm upp, van sien gottlose Daun afftaulaoten. Dorbi wiesde datt Wicht gaorkiene Angst. Sei drohde üm sogaor an, datt us Härgott üm änners aonewäten straofen wüdde.

Dei Herzoch, dei an kien Härgott glöwde, lachde dat Wicht ut un verschläpde sei upp dei Borg. Dor verstobbde hei se. Dat Wicht har üm jüst vertellt, datt sei an denn einzigen waohren Härgott glöwde.

Att dei Beiden upp dei Dersaborg ankaomen wörn, wedderhaolde dat Wicht, watt sei all ünnerwägens sächt har, datt dei Herzoch nämlich derbe van us Härgott bestraoft wüdde vör all sein Klauen un Dotmaoken.

Dei Herzoch wull dor nix van wäten un lachde nur dor öwer. üm imponierde aower dei Maut van datt Wicht un dei gewaltige, faste Globe an denn Härgott. Do geev dei Herzoch siene Spiessgesellen denn Uppdrach, eine Hochtied tüsken üm und at Wicht klaor tau maoken.

Att datt Wicht dat spitzkreeg, befreide sei sick mit eehre lessde Kraft un steeg upp dei Mürn van dei Dersaborg. Sei löt sick van baoben rünnerfaalen in dei Moddern, dei rund üm dei Borg was an dei ünnerkaante van dei Mürn. Sei versööp in dat schmeerige Waoter.

Biet Faalen rööp sei mit klaore Stimm` taun lessden Maol dei Räuber tau:“ Bäätert jau un daut Busse!“

Dei Naoricht van datt komaudige Wicht lööp wie ein Loopfür dör datt ganze Land. Ock dei Frankenherrscher Korl dei Grote hörde dorvan. At hei van aal dei Leipkeiten van Widukind denn Undöägd hörde, leggde hei ein`n hilligen Eid aff. Hei wull nich eiher Ruhe gäben, at Widukind van aale siene Leipkeiten un Undöägde afflöt oder bitt hei dote was un vör denn Richter in Häwen stünd. Standupei rüstede hei aonewäten upp un jaogde denn Sassenherzoch Widukind un aal siene Saldaoten mit orige Schlöke un Utdur.

At Korl dei Grote bi dei Dersaborg ankaomen was, sprök hei dei Wörde: „ ET HIC VENIT DERSA !“ un lööt dei Borg bitt upp dei Grundmürn affbrenn`n un schliepen.

At Andenken an datt komaudige Wicht lööt Korl dei Groote ein Krüz ut groffhaude Eikensuhlen maoken un dor uppstellen. öwer Jaohrhunderte bestünd dütt Krüz dor at Teiken för datt Hollrupper Wicht, watt sick mit so vääl Maut wehrt har.

Naodem sei aonewäten kämpft harn, geev dei Sassenherzoch endlich upp un Korl dei Grote har wunnen. Widukind aower lööt sick dülpen un wedde Christ. Ut üm is ein` frommen Missionar worn, dei vääl Gaues daon heff.

Noch vääle Jaohrhunderte lööter wüdde in denn Süden van`t Oldenborger Münsterlann`n vertellt, datt in dei blauen Stunn`n, wenn dei Näbel ut dei natten Moddern rund üm dei Borg uppstich, datt Wicht wie ein Schatten tau seihn is, wie sei an` Fautende van dat Krüz sitt. Ditt köönt aower nur dei Mensken seihn, dei ein reinet Hette hebbt.

(In den Wirren des dreißigjährigen Krieges verliert sich jeglicher Hinweis auf die Sage. Zufällig wiedergefunden wurde der Originaltext in der Mitte des 18. Jahrhunderts von einem Bauernjunge auf der Suche nach einem verirrten Kalb in den Wallgräben der Dersaburg. Der Junge berichtete seinen Nachbarn zwar von der Entdeckung, den Tonkrug mit der darin enthaltenen uralten Pergamentrolle verschwieg er jedoch. So aufmerksam auf die Wallanlagen geworden unternahm schließlich im Jahre 1768 der münstersche Hauptmann Flensburg erste Ausgrabungen auf der bis dato der Vergessenheit anheim gefallenen Dersaburg. Die Schriftrolle hingegen wurde als geheimes Erbstück in der Familie des Bauernjungen wohl verwahrt und von Generation zu Generation weiter vererbt.
Kurz vor seinem Tod entschloss sich der letzte und hochbetagte Spross dieses alten Bauerngeschlechtes das Pergament der öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als er es jedoch nach vielen Jahrzehnten zum ersten Mal wieder aus der Umhüllung hervor holte, zerfiel es zu Staub. Um das traurige Schicksal, aber auch das leuchtende Vorbild des weißen Fräuleins von der Dersaburg nicht wieder und dann vielleicht endgültig aus der Erinnerung der Menschen zu tilgen, diktierte er die Sage wie oben zu lesen.)